„Jetzt bleib‘ doch mal ruhig sitzen!“
Diesen Satz hören viele Kinder immer wieder. Und ganz ehrlich: auch ich habe ihn schon zu meiner Tochter gesagt. Dabei ist Still-Sitzen gar nicht so selbstverständlich, wie es scheint.
Es hat viel mit einem Bereich zu tun, den wir oft unterschätzen: dem Gleichgewicht.
Warum das Gleichgewicht eine Schlüsselrolle spielt
Unser Gleichgewichtssystem – das sogenannte vestibuläre System – sitzt im Innenohr und versorgt das Gehirn ständig mit Informationen darüber, wo sich unser Körper im Raum befindet. Es ist die Grundlage für viele körperliche und geistige Fähigkeiten.
Ein gut entwickeltes Gleichgewichtssystem ermöglicht:
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eine stabile Körperhaltung
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zielsichere Bewegungen
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konzentriertes Sitzen und Arbeiten
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eine gute Augen-Hand-Koordination
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flüssiges Lesen und Schreiben
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emotionale Ausgeglichenheit
Wenn das Gleichgewicht nicht ausreichend gereift ist, zeigt sich das oft in Form von zappeligem Verhalten, Konzentrationsproblemen, Ungeschicklichkeit oder sogar Schulfrust.
Alles auf Turbo – ein verstecktes Signal
Viele Kinder wirken auf den ersten Blick so, als könnten sie ihr Gleichgewicht problemlos halten. Sie balancieren, laufen, hüpfen – aber immer in einem sehr hohen Tempo. Dieses „Schnell-sein“ ist oft eine Kompensationsstrategie: Das Kind hält den Körper ständig in Bewegung, um die innere Unsicherheit auszugleichen.
Das hier sind Anzeichen, dass trotzdem ein Problem mit dem Gleichgewicht bestehen könnte:
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Dein Kind vermeidet langsame Bewegungen oder kommt dabei sofort ins Wanken.
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Es fällt ihm schwer, länger ruhig zu stehen oder zu sitzen.
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Die Bewegungen wirken oft hektisch oder unkontrolliert.
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Dein Kind verliert schnell die Orientierung, vor allem, wenn es die Augen schließt.
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Es sucht ständig nach Bewegung und kann schwer „zur Ruhe kommen“.
Eltern können also genauer hinschauen: Nicht nur ob ein Kind eine Aufgabe schafft, sondern auch wie es sie bewältigt. Das „Wie“ verrät oft mehr über die Reife des Gleichgewichtssystems als das reine Ergebnis.
Gleichgewicht, Ordnungssinn und Rechtschreibung – wie hängt das zusammen?
Ein stabiles Gleichgewicht schafft die Grundlage für innere und äußere Ordnung. Kinder, die sich im eigenen Körper sicher fühlen, können sich auch in ihrer Umwelt besser orientieren.
Der Ordnungssinn – also die Fähigkeit, Dinge strukturiert wahrzunehmen und zu ordnen – hängt eng mit der Körperwahrnehmung und Raumorientierung zusammen. Wenn das Gleichgewicht instabil ist, fällt es Kindern oft schwer, sich selbst und ihre Schulsachen zu organisieren. Diese Kinder haben auch Schwierigkeiten damit, links und rechts zu unterscheiden und eine analoge Uhr zu lesen.
Auch die Rechtschreibung profitiert von einem gut funktionierenden Gleichgewichtssystem. Denn auch beim Schreiben braucht es Ordnung. Hier geht es um die Ordnung der einzelnen Buchstaben (Ist es ein b oder d?), die Ordnung der Buchstaben innerhalb eines Wortes (ei oder ie?) und um die Ordnung der Wörter innerhalb eines Satzes. Wenn es später um das Schreiben von Aufsätzen geht, betrifft das auch die Gliederung und den Aufbau von Geschichten.
Für richtiges Schreiben brauchen Kinder:
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eine gute visuelle Orientierung im Raum (z. B. links – rechts, oben – unten)
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eine stabile Auge-Hand-Koordination
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das Verfolgen von Zeilen und Buchstaben
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und ein Gefühl für die Struktur eines Wortes
Fehlt diese körperliche Sicherheit, kann das Schreiben zur echten Herausforderung werden – Buchstaben „tanzen“, Wörter verrutschen, die Rechtschreibung wirkt ungenau oder sprunghaft. Auffallend ist hierbei, dass Kinder dann nicht immer die gleichen Fehler machen und auch mit regelmäßigem Üben nicht besser werden.
Wie frühkindliche Reflexe mit dem Gleichgewicht zusammenhängen
In den ersten Lebensmonaten durchlaufen Babys eine ganze Reihe frühkindlicher Bewegungsmuster – sogenannte Reflexe. Sie entstehen im Hirnstamm und helfen dem Kind, den Körper und alle Sinne so ausreifen zu lassen, dass der aufrechte Gang möglich wird. Einige dieser Reflexe sind direkt an der Reifung des Gleichgewichts beteiligt, wie z. B.:
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Tonischer Labyrinthreflex (TLR): Er beeinflusst, wie der Körper auf die Schwerkraft reagiert.
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Moro-Reflex: Hängt eng mit dem Gleichgewicht und der Reizverarbeitung zusammen.
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Spinaler Galant Reflex: Spielt eine Rolle bei der Beweglichkeit des Rumpfes und der Körperwahrnehmung.
Wenn diese Reflexe nicht vollständig verschwunden sind, ist das Gleichgewichtssystem nicht ausgereift und kann daher dauerhaft überfordert sein – mit Folgen für den Schulalltag: Die Kinder sind innerlich und äußerlich ständig in Bewegung, weil ihr Körper auf der Suche nach Stabilität ist.
Was Eltern zu Hause tun können
Die gute Nachricht: Das Gleichgewicht lässt sich trainieren – und zwar mit einfachen Mitteln, die in den Familienalltag passen. Hier ein paar Anregungen:
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Balancieren: z. B. langsam auf einer Linie gehen
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Schaukeln & Drehen: auf der Schaukel, im Drehsessel oder mit einem Hüpfball
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Barfußlaufen: auf unterschiedlichen Untergründen wie Rasen, Sand, Steinen
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Bewegungsspiele: wie „der Boden ist Lava“, Hüpfspiele oder Yoga für Kinder
Schon ein paar Minuten täglich können einen großen Unterschied machen – und dabei auch noch richtig Spaß machen. Durch diese einfachen Übungen kannst du das Gleichgewichtssystem deines Kindes ganz wunderbar unterstützen. Die zugrunde liegenden frühkindlichen Reflexe werden dadurch allerdings nicht integriert.
Fazit: Ein gutes Gleichgewicht ist mehr als nur „nicht umfallen“
Für Kinder ist das Gleichgewicht die Basis für schulische Fertigkeiten, emotionale Stabilität und ein gutes Körpergefühl. Wenn es nicht ausgereift ist, hilft kein „Streng-dich-mal-an“. Was dann wirkt, ist gezielte Bewegung – am besten spielerisch und mit Freude.
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